Harscampstraße 64
Josef, Else und Rosa Marx, geborene Hirsch, Harscampstraße 64
Jeder von uns kennt die Grausamkeiten des Nationalsozialismus in Deutschland. In dieser Zeit wurde die Menschenwürde mit Füßen getreten. Menschen mit jüdischen Wurzeln haben das ertragen müssen, Menschen mit anderer Hautfarbe, Sinti und Roma, behinderte und psychisch kranke Menschen, Obdachlose, Menschen mit anderer sexueller Orientierung, Menschen, die sich zur Wehr gesetzt haben, die Widerstand gegen das Regime geleistet haben…. Alle diese Menschen wurden verfolgt, entrechtet, misshandelt. Sehr viele von ihnen ermordet.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ - Diesen Satz aus dem Talmud hat sich der Künstler Gunther Demnig zu Herzen genommen. Seine Idee: für jedes Opfer des Nationalsozialismus einen Stolperstein zu verlegen am jeweils letzten frei gewählten Wohnort. Er soll uns an den Menschen erinnern, der hier gewohnt hat.
Heute werden hier in der Harscampstraße 64 drei Stolpersteine verlegt, um an das Leben und Schicksal der Familie Marx zu erinnern: An Josef und Rosa Marx (geborene Hirsch) und ihre Tochter Else.
Es ist die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als die Polizisten und SA-Truppen in ganz Deutschland auf die Straßen gehen und systematisch damit beginnen die Synagogen anzuzünden. Bis sie brennen - lichterloh. Sie schlagen die Fenster der jüdischen Läden ein, beschmieren jüdische Häuser. Sie reißen die Menschen aus dem Schlaf, schlagen und misshandeln sie. Und sie denken, sie handeln richtig. Wer es wagt sich zu wehren, wird verhaftet. Sie plündern jüdische Häuser oder schauen zu, wie diese von Mitmenschen geplündert werden. Die Mitmenschen schauten zu in dieser Nacht!
Die Reichspogromnacht war ein brutaler Akt gegen die Menschenrechte und hat zur systematischen Vertreibung und Ermordung von Menschen mit jüdischem Hintergrund beigetragen.
Die beiden Brüder Josef und Moritz Marx betreiben seit 1919 eine Schneiderei in Aachen, seit 1930 hier, in der Harscampstraße 64, eine Herrenschneiderei, die in ganz Aachen bekannt ist. Josef wohnt mit seiner Frau Rosa und der 1924 geborenen Tochter Else in einer Vier-Zimmer-Wohnung über der Schneiderei.
Josef und Moritz Marx sind sehr engagierte Schneider mit entsprechender Berufsausbildung. Josef absolvierte 1927 seine Prüfung zum Schneidermeister. In der Schneiderei wird Herrenkleidung nach Maß gefertigt. Der Obermeister der Herrenschneider-Innung der Stadt Aachen bestätigt später das hohe Ansehen und die gute wirtschaftliche Situation des Betriebes. Da das Geschäft in den 30er Jahren so gut läuft, können die Brüder sogar 10- 12 Mitarbeiter beschäftigen.
Josef und Rosa Marx (geborene Hirsch) mit ihrer Tochter Else. Eine normale Familie. Sie haben als Familie zusammengelebt, so wie wir es tun. Else, die Tochter, ist wahrscheinlich gerade in ihren spannendsten Jahren, als der Nationalsozialismus ihr die Freiheit nimmt. Sie ist ungefähr so alt wie wir, fünfzehn, als sich die Lage für Juden immer mehr zuspitzt.
Keiner in der Familie hätte eine solche Entwicklung für Juden in Deutschland erwartet. Alle sind schockiert von den Ereignissen der Pogromnacht 1938 und den danach folgenden Enteignungen und „Arisierungen“.
Nach der Pogromnacht muss der Schneiderbetrieb zum 31.12.1938 geschlossen werden. Die Betriebseinrichtung sowie alle Warenvorräte und das gesamte Barvermögen werden beschlagnahmt. Somit hat die Familie von nun an kein Einkommen mehr. Deshalb sieht Josef sich gezwungen seine Wohnungseinrichtung zu verkaufen.
Es kommt noch schlimmer: Josef wird 1941 zu Zwangsarbeiten in Walheim verpflichtet. Dort befindet sich ein Zwangsarbeiterlager und Josef muss mit anderen für ein Straßenbauprojekt arbeiten. Danach wird die Familie in das Barackenlager im Grünen Weg hier in Aachen interniert. Dort sind ab 1941 weitere 1000 jüdische Menschen untergebracht. Josef wird in dem Lager bis zu seiner Deportation von der üblichen Zwangsarbeit befreit und muss Kleidungsstücke ausbessern.
Mit Hilfe der jüdischen Wohlfahrtsstelle kann die Familie sogar noch Schiffskarten für eine Flucht nach Übersee kaufen. Bevor sie jedoch die Platzkarten erhält, werden Josef, Rosa und Else am 22.3.1942 deportiert.
Josefs Bruder Moritz bleibt, vermutlich wegen seiner Ehe mit einer katholischen Frau, von der Deportation ins Vernichtungslager verschont. Im September 1942 erhält Moritz die letzte Nachricht von seinem Bruder aus Izbica.
Mittlerweile wissen wir, dass etwa einen Monat nach dieser Nachricht das Durchgangslager Izbica aufgelöst wird und die Inhaftierten entweder direkt ermordet oder in ein Vernichtungslager gebracht wurden.
Die Familie Marx ist nur eine von vielen. Allein über sechs Millionen Menschen mit jüdischen Wurzeln werden während der Nazizeit entrechtet, verfolgt und ermordet. Jedes Opfer ist einzigartig und hat seine individuelle Geschichte.
Nie wieder soll solch eine Tragödie jemandem zustoßen. Nie wieder und nirgendwo auf der Welt. Nirgendwo. Gerade weil wir diese Geschichte kennen und noch so viele andere, müssen wir immer neu fragen, was wir schon erreicht haben und ob wir - gerade jetzt- vielleicht unsere Fehler wiederholen und wieder nur zuschauen!
Der Text wurde von der Klasse 10a des Einhard-Gymnasiums geschrieben und den Wegen gegen das Vergessen zur Verfügung gestellt.